Andreas Fiedler

Textbeitrag für den Ausstellungskatalog ‹Flüchtiger Horizont›

erschienen zur gleichnamigen Ausstellung im Kunstmuseum Solothurn

 

Raffaella Chiara ist in dieser Ausstellung ausschliesslich mit Papierarbeiten vertreten. Im Medium der Zeichnung eröffnen sich Chiara in grösster Unmittelbarkeit vielfältige Möglichkeiten, ein narratives Potential anzulegen. Zeichnerisch verbindet sie die verschiedensten Elemente zu einer eigenartigen Szenerie, die Schauplatz einer absurden, mäandrierenden Erzählung zu sein scheint. Mal ist der Strich schwungvoll und bestimmt, mal krakelig und suchend. Inhaltlich und formal bringt die Künstlerin so Gegensätzliches und unvereinbar Scheinendes modellartig zusammen und eröffnet Blickwinkel auf verschiedene Welten. Viele Arbeiten Chiaras setzen Assoziationsketten in Gang und lassen den Betrachter in ein Netz anspielungsreicher Fragmente eintauchen.

„Heimat Konstruktion“ (Abb.) betitelt Raffaella Chiara eine Arbeit, die zu der in diesem Jahr entstandenen Serie mittelformatiger Papierarbeiten gehört. Eine Landkarte wird – harmonikaartig zum Leporello gefaltet – zur tragenden Struktur für ein Brett, auf dem ein Erdklumpen liegt, aus welchem ein Baum wächst. Im dichten Geäst des Baumes leuchten gelbe Kugeln wie Blüten oder Früchte und über dem linken Brettrand schwebt eine grosse Kugel, die einem rot glühenden Sonnenuntergang den Rahmen gibt.

Der Heimatbegriff jenseits patriotischer Klischees taucht im Werk Chiaras immer wieder als Gegenstand künstlerischer Reflexion auf. Die indogermanischen Wurzeln des Wortes verweisen auf dessen ursprüngliche Bedeutung: „Ort, wo man sich niederlässt; Lager“. In der erwähnten Arbeit wird dieser Zusammenhang evident: Der Baum, der seit jeher für Analogien zum Leben und Sterben steht, tritt dem Betrachter als ein vom Erdreich isolierter Körper entgegen, der quasi darauf wartet, irgendwo gepflanzt zu werden und Wurzeln zu schlagen. Wie wäre ein solcher Ort zu bestimmen? Welche Grundlagen und Kriterien kommen bei der Entscheidungsfindung zum Tragen? Der Sonnenuntergang am fernen Horizont vermag in seiner Stilisierung an jene romantischen Sehnsüchte zu appellieren, die durch Werbung, Urlaubsprospekte und Postkarten einsamer Strände genährt werden. Getragen wird das Ganze von einer Landkarte, also jenem Instrument, das uns eine Weltvorstellung ermöglicht und uns in Räumen verortet. Wenn wir einen bestimmten Ort aufsuchen wollen, brauchen wir eine Karte.

Eine umfassend gedachte Weltkarte ist eine Multiplikation von Gesichtspunkten. Das Auge des Betrachters kann überall verweilen, sein Gesichtskreis wird nicht begrenzt: Als Fragment oder in ihrer Totalität ist die Welt auf der Karte stets präsent. Die Welt reduziert sich in Chiaras „Heimat Konstruktion“ auf eine fragile, gefaltete Karte, und diese Karte bezeichnet ein Territorium, in dem an einem ganz spezifischen Ort ein Baum gepflanzt werden kann.

 

heimat

 

 

(Abb.)

‹Heimat Konstruktion› 2006

Bleistift, Farbstift und Aquarell auf Papier, 95 x 66 cm